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Berichte & Ergebnisse 2007

Der lange Weg zum Copley-Square

Beitrag von Robert Kappeler.

Was macht einen Marathonlauf zu einem einzigartigen Erlebnis? Viele Antworten sind denkbar, aber einige der zu meinem jüngsten Versuch gehörenden Fakten lassen nicht unbedingt auf eine Spassveranstaltung schließen. Regnerisch-kaltes Wetter, 7 Grad, kräftiger Gegenwind, jede Menge Hügel auf der Strecke, und eine Endzeit, die 15 Minuten über dem persönlichen Rekord liegt. Voller Überzeugung stelle ich fest: Der 111. Boston-Marathon war ungemein schön! Der Weg zum Ziel am Copley Square war lang, er begann irgendwann im Frühjahr 2006, als mein Umzug nach Mexiko-Stadt immer konkreter wurde und ich meine läuferischen Perspektiven sondierte. Boston ist der heilige Gral des Marathonlaufs, der Klassiker schlechthin, und von Mexiko recht gut zu erreichen. Fünf Stündchen Direktflug, nur eine Stunde Zeitunterschied... Im Herbst beginnt die Anmeldefrist, und schon am ersten Tag tippe ich meine Daten in das Onlineformular. Zeitfenster für die Qualifikationszeit: 25.09.05 oder später. 25. September 2005, jede Minute ist mir noch präsent vom Berlin-Marathon, der einen gleichsam trainingsintensiven wie erfolgreichen Sommer in 2:37:25 krönte... Der Umzug nach Mexiko bringt die Erkenntnis, dass hier alles anders ist. Training wie in Berlin nicht machbar. Wettkampfergebnisse indiskutabel. Lichtblicke gibt es nur im Flachland, beim Halbmarathon in Dallas und zu Silvester im Plänterwald. Zurück in Mexiko ist die Motivation wieder da. Noch drei Monate bis Boston. Eine Woche lang kommt das Training gut in Fahrt, dann beginnen die Schwierigkeiten: berufliche Verpflichtungen, gesundheitliche Probleme, am 18. Februar laufe ich den dreihundertsten Kilometer des Jahres. Noch acht Wochen. Es läuft nicht im Training. Deshalb macht das Training keinen Spaß. Deshalb trainiere ich weniger. Deshalb läuft es nicht im Training. Aus den dämlichsten Gründen scheitern immer wieder meine geplanten langen Läufe. Bislang steht nur einer zu Buche, und der hat den Namen auch nicht verdient. 26 km am 27. Januar. Viele Kilometer lang quäle ich mich auf dem Laufband. Nach 99 Minuten schaltet das Gerät automatisch ab. Am 9. März zeigt der Tacho zu diesem Zeitpunkt 14.12 Meilen an. Schweißgebadet verlasse ich den Ort des Stumpfsinns. Bei jedem Lauf horche ich tief in mich hinein. Was kann ich? Wie entwickelt sich die Lage? Es fehlt jeglicher Referenzmaßstab. Ach, wie schön ist Wilmersdorf an einem lauen Donnerstagabend. Die Intervalle auf dem Laufband künden von kleinen Fortschritten. Aber kann man einen Marathon mit 50 Wochenkilometern vernünftig angehen? Irgendwie bestimmt. Aber mein Anspruch ist es immer noch, unter drei Stunden zu bleiben. 18. März, und noch gut vier Wochen. 10 Kilometer Wettkampf bei mir um die Ecke. Startschuss, und schon nach gefühlten drei Schritten steigt mir ein Konkurrent in die Hacken. In Zeitlupe sehe ich mich dem Asphalt entgegenrauschen. Noch im Fall schießt der Gedanke an Boston durch den Kopf, sollte der Sturz als Alibi herhalten? Doch jetzt erwacht der Kampfgeist, und mit aufgeschlagener Lippe und blutendem Knie renne ich ins Ziel, 38:33min, nach meiner Erfahrung mit der Umrechnung von der Höhenlage entspricht das bei mir einer Zeit von knapp unter 36 Minuten im Flachland. Noch ist Boston also nicht verloren. Aber das Knie schmerzt mehr, als ich mir das zugestehen möchte, und auch die Folgewoche bringt daher keinen langen Lauf. Die Sorge um die Ausdauerfähigkeit steht nun im Mittelpunkt. Aber selbst der 3-Wochen-Notfallplan geht nicht auf, es ist wie verhext. Statt zu trainieren warte ich in El Salvador sieben Stunden auf einen Anschlussflug. Wie schnell die Ansprüche doch sinken. Hauptsache mit Anstand ins Ziel kommen. Am 5. April, zehn Tage vor dem Wettkampf, ist es dann soweit. Mein erster richtiger, langer Lauf. 30 Kilometer, 15 Runden auf einer zwei Kilometer langen Piste, und zum Ende hin desillusionierend hart. Das kann ja heiter werden. Die vorletzte Woche vor dem Marathon ist gleichzeitig meine umfangreichste. 82 Kilometer, ich suche noch nach einem Lehrbuch, das diese Methode stützt. Insgesamt werde ich vor dem Start des Marathons 720 Jahreskilometer zu Buche stehen haben. Am 13. April dann die Anreise nach Boston, und ich bekomme immerhin Lust auf das Rennen. Schon der Beamte an der Grenzkontrolle freut sich, als ich ihm als Besuchsgrund den Lauf nenne. Und so geht das weiter. Die ganze Stadt ist in Stimmung. Samstag nutze ich das kühle Frühlingswetter zu einem 12 Kilometer langen Testlauf, und die Begeisterung geht mit mir durch. Meereshöhe und Luftqualität beflügeln meine Performance, und ich glaube am Charles River entlang zu schweben, viel zu schnell zwei Tage vor dem Marathon, aber was soll's: „This one is for fun”, sage ich bei der Nummernabholung, am allerersten Stand, denn die Startnummern werden nach Qualifikationszeit vergeben, und um mich herum warten jede Menge austrainierte und konzentrierte Läufer. Nachmittags sehen wir ein Spiel der Boston Red Sox im legendären Baseballstadion Fenway Park, und von der Tribüne aus sieht man wie ein Fanal die ganze Zeit die Citgo-Leuchtreklame, die zufällig genau den Punkt markiert, von dem es noch eine Meile bis ins Marathonziel ist. An diesem Wochenende gibt es in Boston nur zwei Themen: die Red Sox und den Marathon. Die locals sind sehr gesprächsfreudig, wenn man zu beiden Themen Substantielles beizutragen hat, kann man sich des Respektes sicher sein. Samstagabend kam noch ein neues Thema hinzu: das Wetter. Die Berichte, dass ein ausgewachsener „Nor'easter”, ein kalter Sturm mit Regen übers Land ziehen würde, verdichteten sich, und Sonntag waren sie Gewissheit. Kalter, böiger Wind, vier Grad Celsius, teilweise wolkenbruchartiger Regen. Düstere Prognosen prophezeiten eine der schlechtesten Wetterlagen in der Geschichte des Boston-Marathons überhaupt, und kein noch so schreckliches Szenario wurde ausgeschlossen. Natürlich keine angenehmen Bedingungen, aber ich versuchte es locker zu sehen. Aufgrund meiner bescheidenen Vorbereitung war ich ja ohnehin ohne große Erwaltungshaltung nach Boston gereist. Wie ärgerlich muss so eine Nachricht sein, wenn man in bestem Trainingszustand an den Start gehen kann! Außerdem hatte ich ja schon in Regensburg 2005 ähnliche Erfahrungen gemacht, die aber durchaus positiv waren. Als am Renntag um 05.15 Uhr der Wecker klingelte, vernahm ich kräftiges Plätschern. Immerhin kein Schneefall, war der erste Gedanke. Die Fahrt mit dem Taxi zum Sammelpunkt der Busse führte durch peitschenden Regen, stellenweise stand das Wasser zehn Zentimeter tief auf der Fahrbahn. Am Warteplatz hatte es dann überraschend aufgehört zu regnen, so dass ich nach wenigen Minuten trocken im Bus Platz nehmen konnte. Eine Stunde Fahrzeit bis Hopkinton, dem Startort, und allmählich klarte es etwas auf. Meine Urangst, drei Stunden vor dem Start im Regen herumstehen zu müssen, wurde glücklicherweise gelindert, da überraschend eine große Sporthalle als Warteraum zur Verfügung gestellt wurde. Auf engstem Raum auf dem Boden kauernd verbrachte ich anderthalb Stunden, gelegentlich etwas essend, und die sorgenvollen Blicke der Mitläufer beobachtend. Der Duft von Massageöl in der Luft. Bei leichtem Regen ging es um 9.15 Uhr in Richtung Startlinie los. Trotz der widrigen Witterung entstand schnell eine fröhliche, ja gelöste Stimmung. Erstens war das Wetter weniger schlimm als befürchtet, und zweitens verbreitete sich rasch eine „Marathon-ist- nichts-für-Weicheicher” Haltung. Das Ende der Startzone liegt am Fusse eines Hügels, dort einsortierte Läufer hatten also gleich am Anfang eine entsprechende Steigung zu absolvieren. Zum Glück gehörte ich zu Corral 1, vorne direkt hinter der Elite, und von dort sah ich gerade noch den Start der Top-Frauen, die 25 Minuten vor dem restlichen Feld auf die Reise geschickt wurden. Der Startbereich liegt direkt neben dem Friedhof von Hopkinton, was für ein Omen also. Aber die in Müllsäcke und abgetragene Kleidung gewandeten Gestalten auf der Straße passten irgendwie gut dazu. Drei Minuten noch zum Start, und der Himmel öffnete erneut seine Schleusen. Zeit nochmal, über meine Strategie nachzudenken. Auf jeden Fall wollte ich versuchen, unter drei Stunden zu laufen, aufgrund der Strecke und meines Formzustandes mit besonderen Maßgaben. Entgegen aller gängigen Lehrmeinungen plante ich, zügig anzugehen, also aufgrund des Gefälles auf dem ersten Streckenteil um die 4min/km zu laufen und dieses Tempo bis etwa Rennhälfte zu halten. Danach im hügeligen Gelände langsamer, etwa 4:30/km, und ab dem Heartbreak Hill sollte dann der liebe Gott helfen. Außerdem wollte ich bergauf pushen, während ich bergab eher locker anzugehen gedachte. Ich hatte mich entschieden, die mitgeführte Wegwerfjacke noch bis Meile 5 zu tragen, und das erwies sich als guter Gedanke. Mit dem Startschuss machte sich sofort mein Hauptproblem bemerkbar. Auf fallender Strecke, ohne adäquates Tempotraining und in einem Feld motivierter und gut trainierter Läufer war es für mich ungemein schwierig, mein Lauftempo vernünftig einzuschätzen. Aber na gut, das Ganze ist eh' ein einziger großer Selbstversuch. Kilometer 1 liegt nach 3:45 hinter mir, und gar nicht so weit vorne stürmt die Männerelite den Berg hinunter. Der erste Dämpfer kommt schon auf dem zweiten Kilometer. Ich hatte mir leichtsinnigerweise vorgestellt, dass es die ersten vier Meilen praktisch nur bergab geht, aber denkste! Kleine Gegensteigungen sind Gift für jeden Rhythmus, und außerdem wird der Regen gerade wieder stärker. Und jetzt noch 40 Kilometer? Ja Mahlzeit. Derweil sortiert sich das Feld immer noch, mittlerweile laufe ich an geschätzter 1000. Position, aber es macht keinen Sinn, in zu schnellen Gruppen mitzugehen. Nach vier Meilen der erste wirkliche Anstieg, leider nur wenige Zuschauer, die sind allerdings sehr enthusiastisch. Einige Minuten später landet meine Jacke am Fahrbahnrand, hundert fröstelnde Meter lang bereue ich das, ehe sich die Betriebstemperatur wieder angepasst hat. Bei Kilometer 10 ist der Höhenunterschied erst einmal komplett abgebaut, meine Durchgangszeit von 38:35 kenne ich von irgendwoher, also vorsichtig weiter. Die nächsten 15 Kilometer sind laut Plan nur leicht gewellt, so dass ich hier erst Tritt fassen und den 4er Schnitt präzise treffen möchte. Leider meldet sich nach etwa einer Stunde mein Verdauungstrakt, und ich spüre sofort eine Leistungseinbuße. Schnell steht der Entschluß, das nächste Dixihäuschen anzusteuern. Ich bin dort heute der erste Kunde, alles noch sauber, sogar Hygienetüchlein liegen bereit. Knapp drei Minuten später bin ich wieder auf der Straße. Nach dem Rennen stellt sich übrigens heraus, dass die US-Topathletin Deena Kastor im selben Streckenabschnitt eine ganz ähnliche Entscheidung getroffen hat und dabei zwei Minuten und jegliche Siegeschance eingebüßt hat... Deutlich spürbar ist, dass ich in einem langsameren Cluster gelandet bin, denn mit meinem aktuellen Tempo mache ich rasch Plätze gut. Trotzdem läuft es nicht ganz so locker wie erhofft, und eine böse Vorahnung auf eine zweite Rennhälfte mit schwierigen Hügeln und Ausdauerdefiziten macht sich breit. Derweil erfüllt ein seltsames Kreischen die Luft, und alle Läufer streben den Straßenrändern zu. Wir nähern uns dem Wellesley-College, Girls only, die traditionell für unglaubliche Stimmung sorgen. „Tunnel of Love” ist der Spitzname des Streckenabschnittes, und wäre man 15 Jahre jünger und nicht so in Eile, könnte man sich das eine oder andere Angebot schon noch einmal näher überlegen. Der Ha lbmarathon ist bei 1:25:45 erreicht, etwas langsamer als erhofft, geschuldet aber vor allem der kurzen Pause. Trotzdem freunde ich mich mit dem Gedanken an, vielleicht länger als drei Stunden zu brauchen. Wer weiß, was noch kommt. Ein Powergel bringt den gewünschten Effekt, und mein Schritt verstetigt sich wieder, ehe Kilometer 25 (1:41:34) vorbeirauscht. Es beginnt eine 800 Meter lange Gefällestrecke, die ich zum kräftigen Durchlockern nutze, danach der Wellesley Hill, der aber erstaunlich angenehm zu laufen ist. Entspannt bleiben, denn gleich beginnen die vier berüchtigten Steigungen in Newton. Der erste Hügel hat es wirklich in sich, ein Kilometer lang, und nach oben hin steiler werdend. Ich laufe knapp am Anschlag, aber es fühlt sich in Ordnung an. Leider verpasse ich den zweiten Hügel (der wohl nur sehr mikrig ist), den dritten halte ich dann für den zweiten und bin somit völlig überrascht, als ich am Straßenrand meine Ehefrau auftauchen sehe und somit realisiere, dass ich ja schon den Heartbreak Hill erreicht habe. Die eingesparte Kraft eines Hügels verleiht Flügel. Überraschenderweise entdecke ich in meinem Körper noch jede Menge Reserven, und während andere Läufer offenkundig noch mit dem Hammermann hadern, finde ich meinen Schritt auf der Ebene schnell wieder. Es ist jetzt Laufen wie im Rausch. Auf der Beacon Street (35k: 2:23:58) angekommen ist klar, dass die drei Stunden locker drin sind. Weil ich aber auch keinen Bestzeitendruck spüre, geht es „comfortably hard” dem Ziel entgegen. Auf dem 39. Kilometer mache ich mir den Spaß und zähle die überholten Laufkollegen, es werden 46 sein. Nach letzten kleinen Wellen biege ich auf die Zielgerade ein, die recht leer vor mir liegt, Genuss und Genugtuung stellen sich ein. Gerade habe ich die vielleicht schönsten zehn Marathonkilometer meines Lebens hinter mich gebracht, bei kaltem Nieselregen und fern jeder Bestzeit. 2:53:02h, immer noch sehr in Ordnung, und im Ziel fühle ich mich noch topfit, nichts tut weh. Es reicht sogar, um noch einen Kilometer locker auszulaufen. Von wegen mangelnde Ausdauer als kritische Größe! Angesichts meines Trainingsaufwandes auch für mich selbst erstaunlich. An diesem Tag bleibt nur noch ein Wunsch: In Topform nach Boston zurückkehren zu können.

Für Statistikfreunde und Bilderfans

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