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Dies ist ein Archiv, die aktuelle Website ist www.psb24-laufteam.de.

Berichte & Ergebnisse 2007

Spartathlon 2006/2007 - Leistungskurs kriechisch oder das kleine Chinesikum - 3. Akt

Beitrag von Shakal Ryan.

Dritter Akt – Die Avonberater am Sangaspass

Inzwischen ist es endgültig Nacht geworden. Ich laufe schon mal vor, bergauf sind Jan und Michael etwas schneller, schließen bald auf. Auf der folgenden stark abschüssigen Straße gelingt die Rückkehr in ordentlichen Laufschritt, sofern man Ganzkörperbremsstampfen als ordentliches Laufen bezeichnen möchte. Erster Sockenwechsel bei km 130. Keine gute Idee, wie sich bald herausstellen wird. Die Schlaglochpiste Richtung Malandreni erfordert noch vollen Stirnlampeneinsatz. An der sich anschließenden schicken EU-Fördermittelstraße wurde immerhin etwas weiter gebaut im Vergleich zu 2006, zügig hole ich darauf die anderen ein. In Spartathlonsprach bedeutet das: nach circa einer Stunde. Rene dümpelt gerade etwas, hat leider Probleme mit dem Magen, kann diese mit all seiner Erfahrung jedoch bald gut in den Griff bekommen. Das ist vielleicht das Entscheidende bei diesem läuferischen Gewaltakt: wie geht man mit schweren Krisen um, von denen garantiert jeder Läufer mindestens eine erdulden muss.

Die Frau am Malandreni-Buffet bei km 140,2 bekommt auch gerade eine Krise. Ihr Angebot von Wasser auf Federviehbrösel lehne ich dankend ab, die Hühnersuppe löst sich in nur lauwarmem Wasser nun mal nicht wirklich gut auf. Am linken oberen Ende des Tisches erspähe ich dafür zwei schöne Fleischspieße mit Zitronenscheibe. Der Zugriff wird von einem hinzueilenden Griechen vereitelt: „Not for you!”, und schon bekomme ich eins auf die Finger. Natürlich, auch das Hilfspersonal selbst muss sich ja irgendwie die Nacht über versorgen und durchhalten. Hier wird getanzt, gelacht, selbst die Kleinkinder dürfen aufbleiben, solange, bis sie von selbst einschlafen. Es scheint, als käme der Spartathlon hier auf dem Land in seiner Bedeutung gleich nach Weihnachten. Mindestens.

Richtung Lyrkia schalte ich meine Lampe immer wieder aus. Über mir leuchtet hell und klar die zauberhafte Milchstraße. Es ist die Nacht nach Vollmond, die Landstraße unter mir auch so nicht zu verfehlen. In der Antike wurden regelmäßig am Tag nach Vollmond -im Hochsommer- die Olympischen Spiele eröffnet. Mit diszipliniertem Laufen über vergleichsweise kurze Strecken. Gemessen in „Stadien”. Wir laufen weit. Weiter. Ewig. Keine Grenze. Nur ein Ziel. Immer weiter laufen. Unendlichkeit in jedem Moment. Flow. Absoluter Flow. Entlang einer Route aus unzähligen glitzernden Diamanten durch ferne Galaxien. Atemberaubend. Der atemberaubende Smog von Athen ist längst vergessen. Darum tut man sich das an.

Bei Jan und Michael läuft es wie geschmiert, einen drohenden Wolf haben sie mit Penatencreme abgewehrt. Am dritten Hauptkontrollpunkt muss ich gleichfalls davon Gebrauch machen (danke, Jan!), bemerkend, dass mein rechter Fuß ein Problem in der Art von 2006 bekommt. Damals begannen sich links nach etwa 210km sämtliche Hautschichten vom Auftreffballen in breiter Front zu lösen, was deutlich mehr Schmerzen verursachte als die übliche auch bestpräpariert kaum zu verhindernde einzelne Blasenentwicklung. An das Rasiermessertreten bis ins Ziel erinnere ich mich nur höchst ungern, versuche ergo, mit ausgiebiger Fußpflege das mögliche heftige Problem im Keim zu ersticken. Oder wenigstens dafür zu sorgen, dass es nicht schlimmer wird. Lyrkia feiert dennoch. Ich bin müde. Durchgekekst und ausgenudelt. Nur noch knappe 100 Kilometer. Nur. Nach über 16 Stunden Freilauf sitze ich sozusagen an der nächtlichen Startlinie des berühmten Langstreckenlaufs in Biel. Beruhigend. Und tatsächlich: der Spartathlon macht jetzt ernst.

Mit richtigem Gebirge. Anders als in Biel. Von weit unten kündigt sich der Höhe(n)punkt mit flackernden Irrlichtern an. Wie bei Spielbergs "Unheimliche Begegnung der dritten Art" hat man beim Blick nach oben das Gefühl, dass jeden Moment ein Raumschiff am Berg landen müsste. Etwa bei km 152 zieht Rene vorbei, er sieht jetzt viel besser aus und ich merke wieder einmal, wie schnell sich Hundeelend und Glückseligkeit bei derart langen Läufen abwechseln können. Durch das nun folgende Bergaufwandern Richtung Sangaspass (nein, nicht Sanga-spass) verschlimmert sich mein Fuß zunächst kaum. Dafür ergreift immer mehr Müdigkeit von mir Besitz, wozu auch die Tatsache beiträgt, dass ich mehr als eine Stunde lang völlig auf mich selbst gestellt bin und weder vor noch hinter mir bis kurz vor der sogenannten mountain base station andere Läufer erspähe. Ob das Rennen abgebrochen wurde?

An der Station schließt Hubert Karl auf. Zum dritten Mal wird einer meiner deponierten Ultrarefresher-Schokoiso-Eiweißmixe angerührt, langsam lässt die Lust darauf nach. Ich hätte einen heißen Kaffee nehmen sollen. Oder habe ich? Oder schlafe und träume ich schon?

Im Vorjahr ohne Jacke über den Pass gekommen, will ich es 2007 wieder so versuchen. Es geht in steile Schotterserpentinen hinein, später weiter auf teilweise leicht ausgesetzten single trails durch Latschen und Gestrüpp, über kaum Halt bietenden Grobkiesel. Mit eins-zu-eins-Faktor. Einen Schritt vor, und zum Ausgleich einen zurück rutschen. Schon nach 100m bin ich total ausgekühlt, schlottere jämmerlich.

Pan tritt heran, eine Wolldecke zum Durchwärmen für mich auf dem Arm. Auch dem Boten der Antike wurde seinerzeit der Herodot'schen Überlieferung nach auf der Passhöhe durch den Hirtengott Audienz gewährt. Der Gott mit Rauschebart und Knoblauchfahne spricht mit sanfter Stimme: „Ryan, du Schaf. Es gibt doch längst Seilbahnen! Warum tust du dir das an?” Ich erinnere mich an Platons Überzeugung: „Seid Ihr Götter nicht Freunde der Kampfspiele?” Wir tun doch alles nur aus Gottgefallen, darum tun wir uns das an. „Ja, aber seid Ihr Menschen nicht längst Freunde von Lara Croft und Selbstmordattentaten?” Das nun nackte Tier, welches seine Wolle für mich opferte, blökt dazu erbärmlich durch diffuses Halbdunkel. Wirkungsvoller Weckruf.

Zurück an der base station reichen mir die tollen Helfer tatsächlich eine wärmende Wolldecke, die Jacke ziehe ich doch noch an. Weise Entscheidung, für die nächsten 7(!) Stunden wird sie bitter nötig sein. Leider nicht überliefert wurde, ob Frau Pheidippides ihren Gatten seinerzeit auch mit Käffchen und einer flauschigen Wolldecke am Fuße des Passes erwartete. Aber die Pause mit dem Hirtengott muss man dem P. beim antiken Leistungsvergleich fairerweise abziehen.

Grablichter, dazu flashlights wie in einer In-Disco auf Mykonos. Eine surreale Atmosphäre. Und doch ist Konzentration auf die Wegführung, auf jeden einzelnen Schritt jetzt so wichtig. Die letzten 250 Höhenmeter zum „Gipfel” sind wilde Stolperei am Abhang, reflektierende Abspannbänder warnen vor Tiefblicken und Fehltritten. Hubert flucht sich kräftig hinauf, der Japaner zwischen uns ist doch tatsächlich noch etwas langsamer als ich, wird am mountain top bei km 161,6 aufgeben. Dort zieht es so sehr, dass ich mich kaum aufhalte und sogleich dem Absturz widme.

Die Eigernordwand ist auch nicht steiler als das, was nun folgt. Zerstörte Muskelstrukturen versuchen, der Gravitation ausreichend Bremskraft entgegen zu halten. Wir erreichen eins-zu-vier-Faktor. Einen Schritt vor, und -zack!- schon auf allen Vieren weiter geschürft. Steinbruch für alle. Eine nun immer heißer werdende rechte Sohle für mich. Eine Ewigkeit weiter unten im Örtchen Sangas halten zwei ältere englische Damen, die man so auch im Kosmetikstudio der Queen verorten könnte, am control point 49 Eiswürfelfußbett und Vaseline bereit. „Thank you, miladies!” Ich bleibe fast 15 Minuten sitzen, ziehe dieselben Socken schließlich seitenverkehrt wieder an.

Wer km 172 erreicht, hat sich schon automatisch für einen weiteren Versuch in den Folgejahren qualifiziert. Etwa die Hälfte aller Läufer wird das Bergdörfchen Nestani nicht innerhalb des hier geltenden Limits verlassen. Tragisch.

Es ist kalt, man ist müde, ausgezehrt, die Landstraße parallel der Autobahn über die Hochebene wird jetzt breit und wenig abwechslungsreich. Bis auf die Würgereiztester: Tierkadaver aller Art in ungeahnten Verwesungsstadien. Neben, und auch mal auf der Laufstrecke. Zwei Milchbrötchen, ein Riegel, heißer Kaffee zum Eilfrühstück. Ich fühle mich gewappnet, auch wenn eine halbe Ziege, welche nach Monaten aus den ewigen Jagdgründen herübergrüßt, wirklich alles abverlangt. Nein, wirklich, das hält ja kein Mensch aus. Warum tut man sich das an?!

Andras Löw, der starke Ungar, Dritter des diesjährigen Ultrabalaton 212km nonstop um den Plattensee herum, hat aufgeschlossen. Andras läuft einen gleichmäßigen unwiderstehlichen Siebener Schnitt. Zu diesem Rennzeitpunkt gehört er damit zu den Raketen. Meiner verzehrenden Rituale längst überdrüssig, goutiere ich eine dicke Schokowaffel bei km 180. Derart gestärkt hänge ich mich an den Ungar, habe ich doch zuletzt beinahe eine volle Stunde meines schönen Vorsprungs auf das Limit herschenken müssen. Außerdem winkt mir eine neue persönliche 24h-Bestleistung, die mit etwa 191km dem Streckenprofil entsprechend ausfällt. Da bin ich schon zu Carl Wilhelm Wilke und Oliver Leu aufgelaufen, wir bilden bis Tegea eine zombische dreiköpfige deutschsprachige Powerwandergruppe im Morgengrauen. Kaum Morgen, reichlich Grauen. Vereinzelt sind Schüsse zu hören. Komisch. Carl Wilhelm meint, auch der Spartathlonveranstalter müsse schließlich sparen und könne nicht für alle Ausscheider einen Bus vorbeischicken. Und der Geruch aus dem Straßengraben sei mitnichten von Tierkadavern, sondern von den abgeschossenen Kollegen vom Vorjahr und überhaupt allen 25 Jahren, die es das Rennen nun gibt.

Bild: Am Sangaspass in tiefster Nacht - 2006 ohne Jacke möglich, 2007 nicht

Kommentar von Shakal Ryan, 29.11.2007, 13:11:

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